6,84 Euro am Tag - verdammt wenig! Kinderarmut in Deutschland ist weiter verbreitet als viele denken. Für Hartz IV-Empfänger ist es nicht leicht, Kinder gut zu ernähren.
SELBSTVERSUCH. NRZ-Redakteurin Cornelia Färber und ihr Sohn lebten eine Woche lang vom Hartz IV-Lebensmittelgeld. ESSEN. Den Abschied vom "normalen" Leben feiern wir bei einer Freundin, auf einem runden Geburtstag. Die Gastgeberin hat investiert, hat das Essen für die Gäste beim schi- cken "Emilio" bestellt. Es gibt getrocknete Tomaten und gegrillte Auberginen, Mittelmeerfisch, Lamm in Honig-Senf-Soße, halbgefrorene Himbeeren mit Sahne. Dazu Prosecco, Wein, Kaffee. Wir fragen nicht nach dem Preis. Sie fragt ja auch nicht, was die vielen schönen Geschenke gekostet haben. Ein gelungener Tag. Die nächsten werden anders laufen. Ganz anders. Dann werden wir von dem leben, was der Staat Hartz IV-Empfängern pro Tag für Lebensmittel zur Verfügung stellt - weniger als fünf Euro pro Kopf und Tag.
Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund, eine Außenstelle der Universität Bonn, hat die Diskussion um Kinderarmut in Deutschland weiter angeheizt. Das gemeinhin "Hartz IV" genannte Arbeitslosengeld II, so eine Studie, reiche nicht aus, um Kinder und Jugendliche gesund zu ernähren. ALG II - das sind 345 Euro für einen Erwachsenen, 60 Prozent des Regelsatzes bekommen Kinder, 80 Prozent Jugendliche.
Ein Drittel dieser jeweiligen Summe veranschlagt der Gesetzgeber für Essen, Getränke, Tabak. Macht - rein rechnerisch - für einen Erwachsenen 4,27 Euro am Tag für Lebensmittel, Kinder müssen mit 2,57 Euro auskommen. Über zwei Millionen Kinder unter 15 leben mit ihren Eltern von Hartz IV. Das sind verdammt viele, die mit verdammt wenig auskommen müssen. Oder?
Wir simulieren - nicht ohne Beklommenheit - deren Situation. Mutter, alleinerziehend, arbeitslos, ohne Unterhalt, mit Sohn. Der Sohn ist 13, also für den Gesetzgeber ein "Kind", auch wenn er mit 1,74 und 64 Kilo mehr einem schlanken Erwachsenen ähnelt und durchaus auch dessen Appetit entwickeln kann.
Der Kühlschrank ist leergeräumt. Jetzt wird eingekauft. 47,88 Euro beträgt, streng genommen, unser Lebensmittelwochenbudget. Einfach draufloskaufen? Sich, wie gewohnt, vom bunten Angebot im Lieblingssupermarkt treiben lassen - die Eurocard wird´s schon richten? Das geht nicht mehr.
Nicht mal für den "normalen" Supermarkt, vom Bioladen, der Öko-Metzgerei oder dem edlen Obststand mal ganz zu schweigen, reicht das Geld. Sondern nur für den Discounter, haben die Dortmunder Forscher herausgefunden. Nun sind Aldi, Lidl & Co. sicher auch nicht die schlechtesten. Aber ausschließlich??
Orientierungshilfe ist nun der Einkaufszettel. Wir arbeiten strikt die Liste ab, No-Name-Grundnahrungsmittel für die nächsten Tage: Öl (79 Cent), Margarine (69 Cent), Freilandeier (!) für 77 Cent, 500 Gramm Nudeln (39 Cent), 15 "Pfundschnitten", also abgepacktes Graubrot (49 Cent), 1 Kilo Äpfel (1,59 Euro), Pesto-Rosso-Soße für die Nudeln (1,69 Euro), Ketchup - zum Verlängern... (59 Cent), Löffel-Cappuccino - trinkt mein Sohn gerne - (1,59), Leberwurst (1,29 Euro), Edamer-Aufschnitt (99 Cent), Honig (1,49 Euro), sechs 0,5 Liter Mineralwasserflaschen für die Schule (69 Cent, 1,50 Euro Pfand) und sechs 1,5 Liter Flaschen Apfelschorle (4,49 Euro, 1,50 Euro Pfand).
Macht 17,54 Euro, zuzüglich drei Euro Pfand. 20,54, knapp die Hälfte unseres Wochenbudgets, haben wir beim ersten Einkauf ausgegeben. "Keine Schokolade, kein Malzbier, kein Salat, kein Bio-Müsli!", mault der Sohn. Ich lege zur Beschwichtigung zwei Kirschjoghurt drauf - weil sie einen Tag über dem Verfallsdatum sind, kosten sie zusammen nur 58 Cent. Dafür müssen sie schnell weg.
Die nächsten Tage gibt es eigentlich immer dasselbe. Morgens Honigbrot, Cappuccino. Einmal zur Abwechslung ein gekochtes Ei. Äpfel für die Schule. Mittags gibt´s zwei Tage lang Spaghetti, mit Margarine und Salz, wahlweise Pesto-Rosso-Soße oder einfach Ketchup. Das ist zwar nicht gesund, aber zugegebenermaßen lecker. Joghurt als Nachtisch. Leberwurst- oder Käsebrot am Abend. Einmal Rühreier.
Wir hungern nicht, natürlich nicht. Aber wir fremdeln. Im Fernsehen, im Radio, auf Plakatwänden lädt uns die Welt der Genießer ein: "Ein schöner Tag - mit frischem Diebels"; "Smoothie - von Möwenpick - der kleine Luxus im Alltag"; "McDonald´s - Ich liebe es!"
Wir gehen spazieren, es ist schönes Wetter, in den Straßencafe?s sitzen die Leute bei Kuchen und Latte Macchiato, bei Rieseneisbechern und Weizenbier. Von dem, was die dafür bezahlen, müssen wir drei Tage auskommen. Mein Sohn will jetzt doch ein "Sparmenü", Pommes, Burger, Limo - einmal pro Woche wird das normalerweise genehmigt. Aber 4,49 Euro? Ich gebe nach.
Gerade haben wir unsere Vorräte aufgefüllt. Noch mal Brot, diesmal Vollkorn (1,49 Euro), Linseneintopf (79 Cent), Milch (62 Cent), Bockwürstchen (2,19 Euro), Kartoffeln (1,59 Euro), Quark (29 Cent), Fleischwurst (1,89 Euro), Tomaten (1,49). Macht 31,47 Euro, plus Sparmenü: 35,96 Euro.
In der zweiten Wochenhälfte essen wir Kartoffeln mit Quark, den Eintopf mit Würstchen, morgens und abends Butterbrote, wahlweise mit Honig, Wurst oder Tomaten. Die Getränke gehen zur Neige. Wir kaufen zwei Liter naturtrüben Apfelsaft (2,38 Euro), stellen Leitungswasser kalt und mischen. Ich würde jetzt gerne Putenschnitzel essen, mein Sohn Feldsalat mit geriebenen Nüssen und Parmesankäse, Obstsalat mit Bananen, Pfirsichen und Ananas. Wir haben nur noch zwei Äpfel.
Am Samstag hat sich eine Freundin angesagt. Ich mach auf kniepig. Theoretisch hätten wir für das Wochenende noch 9,54 Euro - Besuch ist da nicht wirklich eingeplant. Wir kaufen Cola, Saft, Schokolade, Chips. Das Geld ist fast weg. Abends lädt die Freundin mich noch auf ein Bier ein. Wer soll das sonst bezahlen?
Es ist der letzte Tag unserer Hartz IV-Woche. Wäre sie echt, ginge es weiter mit Linsensuppe und Butterbroten und jeden Cent umdrehen. Es ginge weiter mit Verzicht auf Kino und Restaurants, auf das Croissant beim Bäcker und das Eis im Straßencafe?. Man hätte keine 20 Euro für ein Geburtstagsgeschenk und keine zehn, um dem Sohn einen Nachmittag mit Kumpels im Schwimmbad zu spendieren. Der würde sich kaum mit Freunden treffen, weil alles kostet, und nicht mal für ein vernünftiges Schulessen würde das Geld reichen.
Wir beiden stünden vor einem Schaufenster, hinter dem das pralle Leben tobt. Nur müssten wir draußen bleiben. (NRZ) 19.09.2007